#1 – Ein Leben im Raumschiff

Der Wecker läutet um sieben Uhr in der Früh. Jedenfalls ist es in ihrer Heimatstadt auf der Erde so spät, glauben sie. Die Daten sind genau eingestellt und vorprogrammiert, damit das Zeitgefühl der Astronauten nicht verloren geht und ihr Tagesablauf nach Plan abgearbeitet werden kann. Ein Blick aus dem Fenster zeigt ihnen, dass sie sich ein Stück weiter von dem blauen Planeten entfernt haben. Er ist noch immer als kleine Kugel im Schwarz des Universums zu erkennen, genauso wie all die Tage zuvor und doch scheint es so, als wäre der Umfang etwas kleiner geworden – er muss kleiner geworden sein.

Nach dem Frühstück wird im Kontrollraum nachgeschaut, ob es etwaige Anweisungen für Reparaturen an der Außenseite des Raumschiffes gibt. Wer zu spät kommt, dem werden die Aufgaben unter der Nase weggeschnappt und der muss sich nun mit einem einfachen Sitzplatz in erster Reihe vor den Bildschirmen, die die Außenaufnahmen zeigen, genügen, während eine Kollegin in voller Montur aus der Sicherheit des Raumschiffes steigt und mit festgebundenen Werkzeugen ein abgenutztes Teil ersetzt. Der Spaß dauert nur wenige Minuten, jedoch gibt es auch waghalsige Astronauten, die die Wartungsarbeiten hinauszögern, sodass ihr Aufenthalt außerhalb des Raumschiffs oftmals bis zu einer halben Stunde dauern kann. Dann beginnen die anderen, die drinnen bleiben mussten, unruhig miteinander zu reden und vielleicht sogar zu diskutieren, ob man besagten Astronauten nicht für die nächste Woche von den Reparaturaufgaben absetzen sollte, damit auch andere einmal eine Chance bekommen. Trotz der lauten Stimmen verläuft alles friedlich, niemand hat Kraft sich unnötig aufzuregen oder Lust Unmut in der kleinen Gruppe zu stiften.

Später geht es weiter mit dem Trainingsprogramm, das schon auf der Erde für jede einzelne Passagierin genauestens erstellt und eingestellt wurde. Ohne die Erdschwerkraft kommt es auf der langen Überfahrt zu einem gravierenden Muskel- und Knochenabbau, dem das tägliche Laufen oder Radfahren auf den Fitnessgeräten Einhalt gebietet. Bis zu drei Stunden sind nötig, um die Folgen der Raumfahrt zu lindern. Im ersten Monat haben die Astronauten noch nach Bewegung gelechzt. All die Ausflüge, die sie bisweilen auf der Erde tätigen konnten, waren nun in weiter Ferne, wie sollten sie das nur aushalten? Der Sport wurde zu einem täglichen Highlight, bot Abwechslung und Erfrischung. Heute jedoch, nach bereits drei Monaten Flugzeit ist es einfach nur noch lästig, doch die Passagierinnen würden sich niemals beklagen. Unmut zu stiften liegt ihnen fern und so erledigen sie ihre geplanten Aufgaben, bringen die unendlich erscheinenden Sportübungen hinter sich und genießen die danach einkehrende Ruhe.

Und wenn es auf einmal so still wird und es keine notwendigen Tätigkeiten mehr zu erledigen gibt, dann sehnt sich der Astronaut nach einem Buch. Einem Buch, das er physisch in seinen weichen Händen halten kann und dessen Buchstaben und Wörter seine Augen erfassen können. Aber mit der Zeit im Raumschiff ist seine Sehkraft geschwunden, genauso, wie die Wissenschaftler es vorhergesagt haben. Außerdem durchlaufen ihn, je länger der Tag voranschreitet, immer öfter nervöse Zuckungen, die er nicht kontrollieren kann. Eine Unruhe schleicht sich in seinen Körper, die ihn dazu veranlasst, in seiner Freizeit einfach nur stumm dazusitzen und durch tiefes Ein- und Ausatmen des künstlich erzeugten Sauerstoffs seine Nerven zu beruhigen. Es ist die Strahlung, die den Passagierinnen von Zeit zu Zeit zusetzt. Auch das wurde vor Antritt der Raumfahrt besprochen und akzeptiert, wieso auch nicht?

Denn all das hat einen Sinn, einen Zweck und ganz wichtig: ein Ziel. Das Ende der Raumfahrt, das sich von Tag zu Tag deutlicher am Horizont abzuzeichnen scheint, ist für manche hoffnungsfrohe Astronauten zum Greifen nahe. Ist es ein guter Tag, die Stimmung nach einem Raumspaziergang, der bei guten Konditionen möglich war, aufgelockert, so finden sie sich vor dem Schlafengehen zusammen und blicken aus den großen Glasfronten im vorderen Teil des Raumschiffs. Ihr Blick wird erfasst von der unendlichen Schwärze und Dunkelheit, so dunkel, wie man es sich zurück auf der Erde nie hatte vorstellen können, und dazwischen, zwischen all dem Unbekannten und Angsteinflößenden erkennen sie ihr Ziel. Der rote Planet schält sich aus den Tiefen des Universums, wie ein reifer Apfel, der bald bereit ist, vom Ast gepflückt zu werden. Es wird nicht mehr lange dauern, bis das Ende der Raumfahrt in Sicht ist und die Astronauten aus ihrem täglichen Programm aussteigen können, um mit den Vorbereitungen für die Landung anzufangen.

An anderen Tagen drückt scheinbar das gesamte Gewicht des Universums auf die Schultern der Gruppe und ihnen wird schmerzlich bewusst, wie einsam und verlassen sie mit ihrem im Vergleich zu den Planeten und Meteoren winzigen Raumschiff sind. Auf einmal rückt das Ziel wieder in weite Ferne, als hinge es an einem Köder, der von Zeit zu Zeit unter ihren ausgestreckten Händen weggezogen wird. Dann versuchen sie sich gegenseitig aufzumuntern, Mut zuzusprechen und die Stärken des jeweils anderen hervorzuheben, denn in einem Raumschiff sind alle voneinander abhängig. Die Passagierinnen müssen miteinander kooperieren, um an ihr Ziel zu gelangen, nur so kann am Ende auf dem roten Planeten eine neue Gesellschaft aufgebaut werden, die den Erhalt der menschlichen Spezies sichert. Alle anderen, die auf der Erde zurückgelassen wurden, betend, bittend und hoffend, zählen auf das Können der Astronauten, als würde ihr Leben davon abhängen. Und vielleicht ist es auch so. Wer kann schon in die Zukunft sehen?

Was sind wir doch froh, dass wir nicht auf einem Raumschiff, sondern nur in unseren eigenen vier Wänden leben müssen.

Eine Antwort auf „Beitrag #1

  1. Ein wirklich toller und bewegender Text, der zum Nachdenken anregt…

    Ein Leben im Raumschiff – für die meisten von uns einfach eine irreale Vorstellung. All die Einschränkungen die ein Leben im Raumschiff mit sich bringt, die große Ungewissheit, die Unruhe, wie soll man das nur aushalten? Die große Hoffnung, dass all das einem übergeordneten Zweck dient. Normalerweise blicken wir in den Himmel und fragen uns, wie wohl unsere Erde aus der Perspektive der Sterne aussehen möge. Im Raumschiff aber blicken wir auf die verwüstete Erde herab, unsere Welt erscheint aus einer ganz anderen Perspektive. Ist es nicht genau diese Perspektive, von der wir Astronauten lernen sollten?

    Wir sind gespannt und freuen uns schon sehr, deine nächsten Beiträge lesen zu dürfen! 🙂

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