#5 – Gedanken am Heimweg

Manchmal wenn ich in den Supermarkt einkaufen gehe, spaziere ich auf meinem Heimweg bei dem Haus vorbei, in dem meine Schwester wohnt, auch an den Tagen, wo ich weiß, dass sie lange arbeiten muss. Ich habe die Hoffnung, dass sie früher Feierabend macht und zufälligerweise genau zu dem Zeitpunkt mit ihrem Rad um die Ecke fährt, an dem ich vor ihrer Haustüre stehe. Wir würden beide überrascht lachen, uns umarmen und sie würde mich zu einem Café nach drinnen einladen. Es ist eine schöne Vorstellung, doch jedes Mal, wenn ich das Ende ihrer Gasse erreiche und noch immer allein bin, beschleunige ich meine Schritte, denn der Spaß des Einkaufengehens ist vorbei.

Ein Stückchen weiter begegne ich einer Gruppe betagter Tourist*innen in lockeren Sommergewändern, die mit einem ebenso alten Guide durch die Gassen tigern. Er erzählt ihnen Geschichten zu den Häusern in der Gegend und damit ihm auch die Leute ohne Hörgeräte folgen können, hat er ein Mikrofon umgehängt, das seinem Aussehen einen Hauch Professionalität verleiht. Nein, das ist keine illegale Veranstaltung, die vielleicht durch Mundpropaganda zustande gekommen ist. Vermutlich gibt es sogar eine eigene Website, eine Telefonnummer und eine Emailadresse, aber ein bisschen unwohl fühlt man sich schon bei der Vorstellung, dass Tourist*innen durch meine Gasse geführt werden. Während ich die Gruppe beobachte, frage ich mich, ob sie auch vor dem Haus stehenbleibt, in dem ich wohne. Was würde der Guide wohl darüber erzählen? Eine Geschichte aus der Zeit, in der es gebaut wurde? Etwas über deren Besitzer*innen und die Menschen, die einmal darin gewohnt haben? Vermutlich würde er das Haus auslassen, denn sogar mir fällt nichts Spannendes ein, worüber man berichten könnte. Manchmal packt mich das Interesse und mir kommt die absurde Idee mich für eine dieser Führungen anzumelden, doch dann denke ich an die Aussage meines Vaters, wenn man ihn fragt, wieso er im Urlaub nicht in das eine weltbekannte Museum gegangen ist: Wieso sollte ich mir im Ausland etwas anschauen, wenn ich nicht einmal in Wien in ein Museum gehen? Für meine Situation könnte man die Frage umdrehen: Wieso sollte ich in Wien eine Führung machen, wenn ich das nicht einmal im Ausland tun kann? (Stichwort Corona)

Kurz bevor ich zu Hause bin, komme ich an einem Zierfischgeschäft vorbei, das im Keller einer der riesigen Villen des Bezirks versteckt ist. Das Geschäft gibt es schon seit ich denken kann, als Kinder haben meine Cousine und ich uns oft hineingetraut und die bunten Tiere in ihren durchsichtigen Gefängnissen beobachtet. Das ist schon Jahre her und heute weiß ich gar nicht mehr, wie es drinnen aussieht. Der Besitzer ist ein mittelalter, blondgefärbter Typ, der täglich in seinen Pausen rauchend und auf sein Handy starrend durch meine Gasse schlendert und jedes Mal, wenn ich ihn auf meinem Heimweg sehe, frage ich mich, ob er mich genauso erkennt, wie ich ihn, oder ob sein Gehirn schon zu Matsch geworden ist. Wie wohl sein Leben abseits des Geschäfts aussieht? Hat er eine Familie, wohnt er allein? Muss er jeden Tag in der Früh mit der U-Bahn durch halb Wien fahren, um in dieses Viertel zu gelangen? Die anderen Leute, die in dem Fischgeschäft arbeiten, sind junge, alternativ aussehende Männer, die immer viel zu tun haben, wenn sie mir zufällig über den Weg laufen. Aquarien ausspritzen, Müll wegtragen, die Einfahrt auskehren… Manchmal habe ich dann das Bedürfnis das Geschäft nach all den Jahren wieder zu betreten und mich für einen Job zu bewerben. Dann könnte ich in den Mittagspausen wenigstens immer schnell nach Hause laufen.

Wenn ich einkaufen gehe, ziehe ich mir hin und wieder etwas Feines an, weil ich so tun möchte, als würde mir der weiße Tesla vor der Haustüre gehören, oder als würde ich in der großen, weißen Villa wohnen, die die ganze Nacht über beleuchtet ist, damit es die Einbrecher nicht einfach haben. Ich gehe mit steifem Rücken, schaue nicht auf meine Füße, sondern in die Welt vor mir und obwohl es so aussieht, als wäre ich gestresst von der vielen Arbeit, die zu Hause auf mich wartet, denke ich eigentlich an etwas ganz anderes. Ich frage mich, wieso unter der Woche jeden Tag ein Putzauto durch die Gassen fahren muss, das mich um sieben Uhr aufweckt, bevor es noch die unabsichtlich ausgelösten Alarmanlagen der Nachbarn tun können. Ist es notwendig, dass die Kinder vom Haus gegenüber bis spät in die Nacht in ihr blaubeleuchtetes Pool springen und bei jeder zweiten Bitte ihrer Eltern ausrasten, weil sie das nicht so wollen? Oder dass der Golden Retriever ohne Leine und Halsband den Gehsteig entlangläuft, während der Besitzer mit seinem SUV im Schritttempo nebenherfährt?

Ich weiß, dass Jammern graue Haare heraufbeschwört, deswegen sage ich auch nichts von alledem laut (naja, meistens jedenfalls), sondern lasse meine Gedanken laufen, wie einen kleinen Hamster auf seinem Rad. Es verkürzt den Weg in den Supermarkt und meinen Versuch in der Früh erneut einzuschlafen. Denn eigentlich liebe ich mein Wohnviertel und die zum Teil schrägen und zum Teil arroganten Leute, die mir täglich über den Weg laufen. Natürlich zähle ich mich nicht zu ihnen; ich bin nur eine heimliche Beobachterin, die mit den Gassen verschmilzt und ihrer Inspiration hinterherjagt.

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