#8 – Einmal einfach abhauen, das wär‘ doch was

„Stören dich meine Füße hier oben?“
„Was?“
„Ob dich meine Füße stören? Sind sie dir im Weg?“
„Ach so, nein, lass sie ruhig dort. Der Damm ist eh schon längst gebrochen.“

So war sie immer, Alba. Sie schmückte ihre Antworten mit bildhaften Redewendungen aus und es dauerte einige Sekunden, bis man mit der Beurteilung, ob diese auf die Situation gerade wirklich passten, fertig war und keine Einsprüche erhob, sondern einfach stumm nickte und ihr bei was auch immer zustimmte. Es machte ihr Freude hochgestochen und in Rätseln zu sprechen, nur um im nächsten Atemzug eine wilde Schimpftirade auf den Autofahrer, der uns rechts überholte, loszulassen. Die Sonne blendete mich, als ich dem verdreckten Golf nachsah und dabei Albas Stimme ausblendete, um zurück in den Zustand vollkommener Entspannung zu gleiten. Während unser Auto mit mittlerer Geschwindigkeit über den heißen Asphalt der Autobahn dampfte, ruhten meine nackten Füße auf dem Armaturenbrett vor dem Beifahrersitz, wo sie die Vibrationen des Fahrzeugs aufnahmen und in gleichmäßigen Wellen über meine Haut verteilten. Für einen Moment schloss ich meine Augen, beruhigte meine Atmung und versuchte vergangene Gedanken hinter mir zu lassen, doch immer wieder schoss ein bestimmtes Bild durch meinen Kopf, sodass ich nicht wirklich stillhalten konnte.

„Sollten wir nicht vielleicht doch lieber …“, Alba stockte als ihr Blick für eine Sekunde zu mir hinüber huschte und meine zusammengezogenen Augenbrauen wahrnahm. Genervt stieß ich ein langes Seufzen aus, mit dem ich versuchte meine Verwunderung darüber zu verschleiern, dass sie, wie so oft, genau zu wissen schien, an was ich gerade gedacht hatte.
„Sollten wir was?“
„Naja,“ sie zuckte mit den Schultern. „Anrufen und Bescheid geben.“
„Worin läge der Sinn heimlich wegzufahren und uns im Nachhinein doch noch zu verraten?“ Ich verstand nicht, wieso sie manchmal nicht weiter als ein paar Momente zu denken schien und jetzt so tat, als wäre sie die Ängstliche von uns zweien. Das war sie nämlich nicht. Wenn es darauf ankam, strotzte sie vor Mut und würde alles tun, als wäre das Angstzentrum ihres Gehirns auf Sendepause.
„Außerdem ist mein Handy leer. Ich kann frühestens, wenn wir angekommen sind, wieder jemanden anrufen. Und deines …“, ich schnappte ihr Telefon von der Ablage zwischen uns beiden, öffnete meinen noch vollen Plastiktrinkbecher und ließ das Gerät mit einem kleinen Platschen darin untergehen.
„Gern geschehen“, sagte ich und setzte meine Sonnenbrille auf. Alba wurde nicht wütend. Ihr Mund stand vor Staunen eine Zeit offen, dann begann sie so laut und herzhaft zu lachen, dass ich befürchtete, demnächst das Lenkrad übernehmen zu müssen, wollten wir einen Unfall vermeiden. Wut war eine Emotion, die nicht in ihr beheimatet war und schon gar nicht, wenn es um mich ging, als hätte sie ein Schutzschild um sich herum aufgebaut.

„Ok, ich verstehe.“ Sie glitt mit ihrer rechten Hand vom Lenkrad, suchte damit meine, suchte Halt und die Gewissheit, dass ich ihr noch immer vertraute in dem, was wir hier taten. Unsere Finger verschränkten sich ineinander. „Das wird ein Erlebnis, von dem wir noch unseren Enkelkindern erzählen werden.“
Diesmal war ich es, der laut auflachte. „Meinst du? Ich könnte mir vorstellen, dass sie es schon längst bemerkt haben und dann direkt vor dem Hotel auf uns warten. Ende der Geschichte.“
„Nimm uns lieber nicht so wichtig. Die ersten, die uns vermissen werden, sind die Kinder und bei dem Wetter werden sie stundenlang im Pool beschäftigt sein, bis ihnen vielleicht die Idee kommt, wir könnten auch noch als lustige Spielgefährten herhalten.“
Es war ein unglaublich heißer Tag. Die Klimaanlage des klapprigen Autos funktionierte nur noch auf niedrigster Stufe, doch die Fenster auf der Autobahn zu öffnen war für uns beide ein Graus, da wir das Dröhnen in den Ohren nicht aushielten und war es nicht genau das gewesen, vor dem wir geflohen waren? Der Lärm und das Rauschen.

„Vielleicht hast du recht“, meinte ich leise und blickte aus dem Fenster. An warmen Tagen schwoll die Lautstärke der Stadt zu einem durchdringenden Geräusch an, das sich in meinem Gehirn festzusetzen schien und mich nicht in Ruhe lassen wollte. Doch nun waren wir hier. Frei. Und zu zweit. Albas Gefühl fegte wie ein Wirbelwind durch meinen Körper und ich verspüre eine Art von Zufriedenheit, die ich vorher nicht gekannt hatte, weil sie der einzige Mensch war, der mich klar sehen ließ.
„Ob sie merken werden, dass wir die Hochzeitstorte mitgenommen haben?“
„Ach, die haben genug Geld für das Essen ausgegeben. Auf eine Mehlspeise mehr oder weniger, kommt es da auch nicht mehr drauf an.“ Sie versuchte ernst zu bleiben, während sie antwortete, doch das Grinsen war nicht aus ihrem Gesicht zu vertreiben. „Außerdem glaube ich, werden sie sich über unser Geschenk sehr freuen, das wir stattdessen dagelassen haben.“
„Da bin ich mir sicher“, murmelte ich lächelnd und genoss die warmen Sonnenstrahlen auf unseren Händen. Die Räder drehten sich mit einer unglaublichen Geschwindigkeit, die anderen Autos zischten an uns vorbei, der blaue Himmel glänzte von seinem Platz auf uns nieder und die ersten Berggipfel kamen langsam in Sicht. Die Ruhe hatte es schließlich doch geschafft zu mir zurückzukehren und eine tiefe Entspannung in meiner Brust auszulösen, während Albas Ausstrahlung meine ewigen Gedankenkreise schloss und beiseiteschob.

„Das wollte ich immer schon mal machen.“
„Was? Eine Hochzeitstorte stehlen?“, fragte Alba zurück und trommelte mit ihren Fingern fröhlich auf das Lenkrad. Ich schaute zu ihr hinüber, unsere Blicke trafen sich und es war alles, was ich in diesem Moment wollte.
„Das auch“, antwortete ich und lachte. „Aber eigentlich habe ich das hier gemeint.“ Ich nickte in eine unbestimmte Richtung. „Abhauen, losfahren und nur noch nach Vorne schauen.“
Frei sein.

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