#10 – Ist dir das schonmal aufgefallen?

Es ist, wie wenn du eine Packung Chips aufmachst. Einmal begonnen die salzigen Kartoffelstücke in dich hineinzuschieben, kannst du nicht mehr damit aufhören. Du isst weiter, gräbst die fettigen Finger immer tiefer in das Plastiksackerl und merkst natürlich erst viel zu spät, dass der Moment zu stoppen, bereits unbewusst an dir vorübergezogen ist. Und jetzt hast du den Salat: eine zu Dreiviertel aufgefressene Chipspackung und ein ungutes Gefühl, das sich so tief eingenistet hat, dass du es auch noch Stunden später irgendwo in dir drinnen verspüren kannst. Genauso verhält es sich mit meinen Gedanken zu dem Thema, über das ich nun schreiben werde. Ehrlich gesagt weiß ich gar nicht mehr, wann ich zum ersten Mal darüber nachgedacht habe – ich weiß nur, dass ich jetzt nicht mehr aufhören kann und das ungute Gefühl hat sich ziemlich schnell in etwas anderes verwandelt: Verärgerung.

Ist dir schon einmal aufgefallen, wie sich Männer in der Öffentlichkeit einen Pullover ausziehen? Und mit Öffentlichkeit meine ich die U-Bahn, Straßenbahn, die Universität, das Restaurant, das Pub, der Gehsteig… Ein Pullover ist das Kleidungsstück, das man immer anziehen kann, das immer dazu passt und das man schnell mal in der Hand oder um die Hüften tragen kann, falls es draußen doch zu warm ist. Mittlerweile frage ich mich aber, ob hinter dem einfachen Baumwoll- oder Polyesterteil doch noch ein bisschen mehr steckt als ich bisher angenommen habe? Vielleicht hängen an dessen Innenseite winzige Tierchen ab, die nur dann wach und aktiv werden, wenn sie bemerken, dass der Mensch, an dessen Körper der Pullover angeschmiegt ist, diesen ausziehen möchte. In solch einem Moment wird die Aggressivität der Tierchen angekurbelt, sie fahren ihre Krallen aus und heften sich mit ihrer gesamten Kraft an das unter dem Pullover getragene Textil, um dieses beim Vorgang des Ausziehens mit sich zu reißen. So muss es sein. Anders kann ich mir nicht erklären, wieso jeder zweite Mann sich nicht seinem Pullover entledigen kann, ohne dabei für einen Moment mit nacktem Oberkörper dazustehen. (Wem das noch nie aufgefallen ist, der soll jetzt bitte die Hand heben beziehungsweise diesen Blogbeitrag verlassen.)

Natürlich bin ich nicht prüde, habe selbst schon einige nackte Männer gesehen und wenn ich schreiben würde, dass es mich stört, diese (oder Frauen) auch in der Öffentlichkeit beobachten zu müssen, würde ich lügen. Grundsätzlich war ich früher der Überzeugung, dass es mir egal ist, wie sich ein Typ seinen Pullover auszieht. Wer macht sich auch schon über so etwas Banales Gedanken? Sollen sie doch mit ihren Kleidungsstücken herumhantieren, wie sie wollen. Es war nicht mein Problem. Aber irgendwann habe ich dann doch zu grübeln begonnen und mich gefragt, wieso Frauen es schaffen, sich ihren Pullover ohne Bauchblitzer auszuziehen, aber Männer nicht. Wieso kann ich das, aber mein Freund nicht? Bloß ein weiteres Indiz für die vielen Unterschiede zwischen den Geschlechtern*?

Du merkst, zu dieser Zeit sind meine Gedanken losgeschossen, wie auf einer Achterbahn und es hat nicht lange gedauert, bis ich den Ursprung meiner Pullover-Auszieh-Wut gefunden habe. Und der liegt leider nicht in den unterdurchschnittlichen Fähigkeiten der Männerwelt, sondern in der unendlich langen und unausgesprochenen Liste der gesellschaftlichen Vorschriften an Frauen. Ja genau, du hast richtig gelesen und für all diejenigen, die gerade keine Ahnung haben, was ich meine, sind hier ein paar ausgewählte Fragen zu dem Thema: Was wird heutzutage als schön erachtet, was ist der neueste Trend, welche Körperregion soll betont werden? Wie auffallend sind meine Klamotten, wie viel Raum nehme ich ein, welche Wirkung hat mein Aussehen auf andere?

Wenn sich meine Freundin ihren Pullover auszieht, achtet sie sorgfältig darauf, dass ihr T-Shirt genau da bleibt, wo es bleiben sollte. Sie zupft es zuerst zurecht, steckt es vielleicht sogar in die Hose hinein, oder hält es mit einer Hand fest, damit es während des Ausziehens nicht den Blick auf ihren nackten Bauch freigibt. Obwohl meine Freundin sehr dünn ist und man an ihrem Körper ein Gramm Fett vergeblich sucht, fühlt sie sich unwohl, wenn es ihr passiert, dass sie in der Öffentlichkeit unabsichtlich zu viel nackte Haut zeigt. Sie schämt sich keineswegs für ihren Bauch, aber irgendetwas in ihr drinnen erinnert sie in diesen Momenten daran, sich unter Fremden nicht so freizügig zu zeigen. Und vielleicht würde sie ja doch von einem komischen Typen beobachtet werden, der sich dann seine Gedanken über ihren Körper macht – sie ausrichtet oder über sie urteilt. Stell dir einmal vor, sie würde es gar so weit treiben wie die Männerwelt und für einen Moment nur in ihrem BH neben dir in der U-Bahn sitzen. Und seien wir mal ehrlich, schon allein die dafür benötigte Bewegung schreit danach sexualisiert zu werden. Aber irgendwie doch nur bei Frauen, oder?

Wenn sich aber ein Typ seinen Pullover mitsamt T-Shirt über die behaarte Wampe zieht, ist das eine Normalität, die die Gesellschaft akzeptiert hat und kaum einer von ihnen würde nach diesem Hoppala darüber grübeln, wer in der Straßenbahn aller sein nicht vorhandenes Sixpack bewundert hat. Was mich über diese Umstände ärgert, ist, dass ich mich dabei ertappt habe, wie auch ich mir über diese Kleinigkeit Gedanken mache, während mein Freund ohne schlechten Gewissen seine Brust unter Fremden vorführt. Er hatte noch nie die Überlegung, dass da vielleicht eine Speckrolle zu viel über den Hosenbund quillt, oder dass da ein Haar an der falschen Stelle sitzt. Und ja, vielleicht mache ich mir auch einfach zu viele Gedanken darüber, wie ich von anderen Menschen wahrgenommen werde, aber meiner Beobachtung nach machen sich das 8 von 10 Frauen, aber nur 2 von 10 Männern. Mal ehrlich, ich bin beinahe eifersüchtig, weil ich auch gerne so unbeschwert durch meinen Alltag spazieren würde.

Nachdem ich diesen Blogbeitrag geschrieben habe, merke ich, dass mich das Thema gar nicht mehr wütend macht, sondern, dass da viele verschiedene Emotionen in mir herumschwirren. Einerseits bin ich traurig, weil sogar in solch banalen Dingen sexistische Muster zu finden sind; andererseits verleiht mir die Aufdeckung dieser und die Reflexion darüber eine neue Kraft, die mich bestärkt und vorantreibt. Wie wertvoll es doch ist, mit meinen Freundinnen darüber zu diskutieren, nach ihren Erfahrungen zu fragen und zu erkennen, dass ich doch nicht die Einzige bin, die sich da so einige Gedanken in ihrem Leben macht. Sich gemeinsam über etwas aufzuregen, sich auszutauschen und einen Weg zu suchen, wie man als junge Frau gesellschaftliche Zwänge abschütteln kann – und mögen sie für Außenstehende noch so absurd wirken –, schweißt zusammen.

*Angeborene biologische Unterschiede zwischen den Geschlechtern sind sehr rar. Buchempfehlung dazu: „The Gendered Brain“ von Gina Rippon

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